• Alle_Drei_zusammen

Pavè tut weh
Seit meiner frühesten Jugend betreibe ich auf den verschiedensten Leistungsebenen Radsport. Von den jährlich stattfindenden Radsportveranstaltungen haben es mir schon immer die Frühjahrs-Eintagesklassiker angetan. Und von diesen wiederum ein Rennen besonders:
Paris-Roubaix

Es gilt als eines der sog. 5 Monumente des Radsports. Das Rennen findet immer Mitte April im Norden Frankreichs statt. Oft unter widrigsten Bedingungen. Regen und Kälte und vor allem die 29 Kopfsteinplasterpassagen (die sog. Pavès) sorgen oft für vollkommen erschöpfte und verdreckte Fahrer, die sich zitternd vor Kälte nach 5-6 Stunden übelster Schinderei ins Ziel auf der Radrennbahn in Roubaix retten.
Paris-Roubaix ist ein Haufen Scheiße. Du bist bis zur Schulter voll Schlamm. Du fährst im Schlamm und dir bleibt keine Zeit, zu pinkeln. Es ist ein Haufen Scheiße. Es ist das wundervollste Rennen der Welt.
Theo de Rooy

Am Start stehst du mit einem flauen Gefühl im Magen. Im Wald von Arensberg hast du den Eindruck, als wäre das Kopfsteinpflaster vom Flugzeug aus in den Lehm geworfen worden. Du würdest am liebsten absteigen und das Rad in den Wald pfeffern. Ende, Aus, Schluss mit der Wahnsinns-Quälerei. In Roubaix auf der Radrennbahn aber packt dich plötzlich der Stolz. Du fühlst dich wie ein Held, die Leiden durchgestanden zu haben.
Olaf Ludwig über Paris-Roubaix

Nur 2 von vielen Zitaten, die eine Ahnung von der Faszination dieses Rennens ermöglichen. Für mich hieß das damit schon seit meiner Jugend:
ICH MUSS DA HIN!
Schon vor einiger Zeit habe ich erfahren, dass am Tag vor dem Rennen der Profis die Strecke, wenn auch ohne die eher unspektakulären ersten ca. 85 km, für Jedermänner- und Frauen geöffnet ist. Es ist dabei dann kein Rennen sondern eher eine RTF. Nachdem ich nach einem Rundruf im Freundeskreis überraschenderweise positives Feedback einiger radsportbegeisterter Freunde bekommen habe war diese „RTF“ für dieses Jahr mein Ziel, dem ich alles andere untergeordnet habe (Meine Frau Kathrin verdreht heute noch die Augen wenn das Wort „Roubaix“ fällt).
In technischer Hinsicht ließ ich keine Tipps und Tricks aus, um mein Rad kopfsteinpflastertauglich zu machen. Doppeltes Lenkerband, um das Geruckel etwas abzufangen, einen zusätzlichen Bremshebel am Oberlenker (für den Versuch, auf den Pavès umzugreifen und am Unterlenker zu schalten oder zu bremsen hätte man genauso gut versuchen können, einer Klapperschlange über den Kopf zu streicheln), einen nach oben gedrehten Vorbau, gut gepolsterte Handschuhe (einer meiner Mitfahrer kann von den Blasen an den Händen, hervorgerufen wohl auch durch gewöhnliche Handschuhe, ein Lied singen) und vor allem äußerst stabile Laufräder mit 36 Loch und dreifacher Kreuzung (da zählt nicht Leichtigkeit sondern Steifigkeit). Das sollte mich vor einem technischen Schaden bewahren. Dass zu stabilen Laufrädern auch angemessene Schläuche gehören war mir zu diesem Zeitpunkt in der Vorbereitung leider nicht so recht bewusst. Das sollte sich bitter rächen. Aber davon später.
In physischer Hinsicht ließ ich ab 2.1.2019 nichts anbrennen. Man sah mich vor der Arbeit, nach der Arbeit, bei jeder Dienstreise in der freien Zeit und am Wochenende eigentlich nur noch auf dem Rad oder im Fitnißstudio. Lag mein Pensum in normalen Jahren bei ca. 3-6.000 km pro Jahr hatte ich bis Ende März 2019 eben diese 5.000 km schon auf dem Buckel. Ich habe schnell gemerkt: Das Leben kann ziemlich einsam sein frühmorgens um 6 Uhr auf dem Rennrad bei Nieselregen und Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt. Aber ich wollte mir auf der Strecke ums Verrecken keine Blöße geben.
So –vermeintlich- perfekt vorbereitet ging es am Freitagmittag mit zwei weiteren Mitstreitern aus dem DDMC Solling und dem „technischen“ Leiter Walter in seinem Bulli gen Roubaix. Die Hotels waren gebucht, die Räder gepflegt und verzurrt, die Beine rasiert und gestählt und der Geist fixiert auf meine bis dato größte Herausforderung. Was sollte schon passieren?
Aber lag es jetzt an Frankreich oder an uns? Genau nach der Ankunft begannen die Probleme.
Ich wollte unbedingt die komplette Strecke, also mit dem eher langweiligen Anfangsteil von 85 km absolvieren. Das wollte ich vor der eigentlichen Hauptstrecke in der Nacht (!!) vor der eigentlichen Tour absolvieren. Was für eine Scheiß-Idee! Entschuldigung, aber manchmal muss man auch mal sagen, was wahr ist. Diese Erkenntnis kam mir spätestens, als ich –nach eingehender Diskussion in der Gruppe- mich überreden ließ, dieses Teilstück zwar zu versuchen, aber nicht Samstagnacht vor dem eigentlichen Rennen sondern gleich nach der Ankunft noch am Freitag. Die übrigen Mitfahrer wollten im Hotel einchecken und sich schon mal mental vorbereiten. Was für ein Top Plan! Ich also wie Lucky Luke rauf aufs Rad, schnell noch etwas Wasser in die Flaschen und los ging‘s. Da die Strecke nur in einer Richtung ausgeschildert war, musste ich mich auf mein Navigationssystem verlassen. Das mich dann nach wenigen km verlassen hat. Ohne Strom, sprich Akku, nix los. Mist. Die Sache war aufgrund dieser Nachlässigkeit schon gestorben bevor die ganze Aktion richtig losgegangen ist. Also umdrehen und bei eiskaltem heftigen Gegenwind versuchen, die anderen im Hotel zu treffen. Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Die Jungs hatten allergrößte Schwierigkeiten, überhaupt auf das parkähnliche und mit einem stabilen und natürlich verschlossenen Zaun umgebene Hotel zu gelangen. Wie sich hinterher herausgestellt hat war die Hotelbesitzerin im Krankenhaus und konnte sich daher –leider leider- in keinster Weise um uns (wir waren die einzigen Gäste –Shining lässt grüßen-) kümmern (Nochmals: i’m so sorry). Nur ein hilfsbereiter und zufällig anwesender Nachbar hat dafür gesorgt, dass wir überhaupt ins Hotel und in die Zimmer kamen. Es war alles etwas surreal. Dass wir dann auch am Morgen des Rennens KEIN Frühstück bekommen konnten (very sorry, but i’m in Hospital) setzte dem ganzen dann die Krone auf. Ein reger e-mail Verkehr mit booking.com beschäftigt unseren technischen Leiter bis heute. So kann es gehen, wenn man meint, alles im Griff zu haben. Ein Croissant und ein Becher Kaffee in einem Cafè auf dem Weg zum Startort Busigny mussten daher die Grundlage für unseren 174 km Ritt liefern.
Der Plan war, dass der technische Leiter mit dem Bulli neben der Strecke her fährt und bei Bedarf die notwendigen Dinge rausgibt oder aufnimmt. Der nächste Plan, der nicht wirklich bis zu Ende gedacht war. Es gibt nämlich keine Strecke neben der Strecke! Der Bulli musste daher auf der normalen Straße (RTF = nicht gesperrt) fahren und die Pavès (Rennen = gesperrt für Fahrzeuge aller Art) irgendwie umfahren. Das versuch‘ dann mal. Dass unser technischer Leiter Französisch doch nur eher rudimentär versteht, Verbotsschilder nicht wirklich lesen kann und sich um Regeln öfters einen Scheißdreck kümmert war dann unser Glück.
Um Punkt 9 Uhr ging es nach einem kostenlosen Kaffee im Startbereich in Busigny los. Nach einem gemütlichen einrollen ging es ab km 11 mit dem ersten von 29 Pflasterstücken dann los. Die Pavès sind kategorisiert von 1 bis 5, wobei 1 = „stell dich nicht so an, du Pussi“ und 5 = „hier packst du dein Gehirn besser vorher komplett in die Satelltasche“ bedeutet. Wobei man sich auch nicht allzu sehr auf die Kategorisierung verlassen sollte. Die Einstufung spiegelt im Wesentlichen eher die Länge des Sektors wieder, nicht so sehr die Schwierigkeit. Ich erinnere ein Stück bei km 130,5 mit der Einstufung 2. Da habe ich gedacht, dass ich das Rennen nicht beenden kann. So schlimm war das „Pflaster“. Aber halt zu kurz für eine höhere Kategorisierung.
Das erste unserer Sahnestücke war Kategorie 2. Eigentlich also eher „machbar“. Nach dem Stück habe ich mich allerdings schon das erste Mal gefragt: Wie soll diese Scheiße enden? Das kann man doch nicht so weitermachen! Was soll erst auf den 3, 4 oder 5 Sterne Stücken werden. Ich hatte den Glauben an meine Möglichkeiten ein Stück weit verloren. Zumal es schwer war, an Lars, unserer nordfranzösischen Dampframme, dran zu bleiben. Der bügelte über die Pflastersteine als gäbe es kein Morgen. Dazu kam noch, dass überall auf dem Weg losgerüttelte Wasserflaschen, Handy’s und sonstige Anbauteile lagen, über die man besser nicht drüber rollen sollte. Bei der Gelegenheit auch ein paar Tipps von mir (falls mal jemand gegen alle Warnungen den Wahnsinn wiederholen möchte):
- Schalten geht nur bedingt. Besser ist es, sich vorher den Gang auszusuchen (je größer desto besser) und auf keinen Fall das große Kettenblatt wechseln.
- Hände am Oberlenker lassen (zusätzlicher Bremshebel sh. Vorne im Text)
- Wenn’s eben geht: Vollgas!
- Wo es möglich ist am Rand fahren. Dort ist es etwas ruhiger. Wo das nicht möglich ist (z.B. am Trouèe d`Arenberg, einem von drei 5-Sterne Pavès) direkt in der Mitte fahren.

Aber kommen wir nun zu meiner persönlichen „Schande von Nordfrankreich“.
Auf einem der ersten Pavès kam es wie es kommen musste: Meine Nachlässigkeit, was das Bestücken der Laufräder mit Butylschläuchen (FALSCH FALSCH FALSCH!!!) statt Latexschläuchen (RICHTIG RICHTIG RICHTIG!!!) angeht sollte sich jetzt bitter rächen. Nach einem kapitalen Durchschlag (mal wieder zu nah an Lars‘ Hintern gehangen und deshalb das Loch, was sage ich: den Krater, nicht gesehen und daher voll reingemüllert) war es an der Zeit, die Laufräder jetzt doch etwas professioneller, also mit Latexschläuchen, zu versorgen. Dumm nur, wenn man so unter Strom steht, dass man nicht mehr weiß, wie man einen Schlauch wechselt. Wenn mir Tobi nicht hilfreich zur Seite gestanden hätte, der inzwischen von hinten aufgefahren war, würde ich wahrscheinlich heute noch versuchen, den widerspenstigen Mantel von der Felge zu dengeln.
Und: in diesem Moment zahlte sich aus, einen Versorgungswagen mit einem etwas wahnsinnigen Fahrer dabei zu haben.
Kennt ihr „Spiel mir das Lied vom Tod“? Stellt euch die Streicher von Ennio Morricone vor. Staub. Ein gottverlassener Ort. Ganz hinten am Horizont. Erst ganz klein, dann immer größer werdend. Die Geigen jammern was das Zeug hält. Die Mundharmonika legt ein schmerzverzerrtes Gesicht oben drüber. Und dann: Aus einer dichten Staubwolke taucht auf
DER BULLI!!!!!!
Mit einem breiten Grinsen entsteigt der, UNSER, Fahrer und reicht eine Standpumpe. Ich habe mich noch nie dermaßen über einen Menschen und etwas so profanes wie eine Standpumpe gefreut wie in diesem Moment meiner größten Verzweiflung. Ganz nebenbei wurde noch ein weiterer Fahrer, der es geschafft hat, an seinem Stahlrad den Lenker in der Mitte durchzubrechen, durch Mitnahme im Bulli bis zur nächsten Servicestation glücklich gemacht. Das sind so die kleinen Geschichten am Rande, die dieses Rennen so besonders machen.
Nach diesem kleinen Intermezzo ging es für uns weiter. Im Grunde war es immer gleich. Du fährst auf einer guten, glatten Straße. Nach einigen wenigen km geht es meist im rechten Winkel unter einem extra aufgestellten Torbogen, der die wichtigsten Informationen zum dann folgenden Stück enthält, auf zum nächsten Pavè. Bis ein weiterer Torbogen das Ende des jeweiligen Stücks markierte. Und wieder eins. Und wieder eins. Ich konnte die Torbögen zum Schluss nicht mehr sehen. Mir graute schon vor einem weiteren Stück Rüttelplatte.
Nach 78 km bei den Jedermännern, bei den Profis nach 163 km, kommt der Pavè der Pavès. Der Wald von Arenberg. Ein schnurgerades Stück mit 2,3 km Länge in der Kategorie 5. Hier wurden in der Vergangenheit schon oft die Rennen entschieden. Es gibt aufgrund der Publikumseinzäunungen (hier ist Volksfest mit tausenden von Zuschauern und einem extra plazierten Lkw mit VIP-Gästen) auf dem ganzen Stück keine Möglichkeit, am Rand –und damit auf einem etwas ruhigeren Stück- zu fahren. Meine Taktik war daher: Kette rechts und ab dafür. Eine etwas ….. simple Taktik. Aber sie sollte richtig gewählt sein. Im Nachhinein betrachtet war es die beste Wahl. Dann hat man‘s einfach hinter sich und der Schmerz hält sich noch einigermaßen in Grenzen.
Nach 107 km, am zweiten Verpflegungspunkt, zeigte uns Lars dann seine Hände. 6 Wochen härteste Arbeit im Steinbruch hätten keine anderen Spuren hinterlassen. Blasen soweit das Auge reicht. Hier wäre doppeltes Lenkerband und ein besser gepolsterter Handschuh die bessere Wahl gewesen. Aber die Blasen haben sich an den falschen Händen niedergelassen! Lars hat sie aufgebissen und trotz größter Schmerzen die Tour zu Ende gefahren. Wäre doch gelacht, wenn man sich durch solche Nicklichkeiten die Tour vermiesen lassen würde!
An der Verpflegung auf der Strecke gab es übrigens nicht das Geringste auszusetzen. Hier kam jeder auf seine / ihre Kosten. Es war alles da, was das Herz begehrte. Es fehlte eigentlich nur noch der Rotwein, dann hätte es sich der Ein oder Andere mit der Weiterfahrt wohl überlegt. Soll noch mal einer sagen, die Franzosen können so ein Event nicht organisieren!
Nach dieser letzten Verpflegungsstation folgen noch einige wenige Pavès, wovon einer auch noch ein Zeitnahmepavè ist. Das sollte man aber auch nicht überbewerten. Man ist nicht verpflichtet, mit Höchstgeschwindigkeit über vom Hubschrauber abgeworfene Pflastersteine drüber zu fahren. Wenn man es bis hierher geschafft hat schafft man es sogar, die letzten km zu genießen und diesen letzten, diesen großartigen, diesen monumentalen, diesen vollkommenen Moment in vollsten Zügen zu genießen: Die Einfahrt in die mythenumwobene Radrennbahn von Roubaix. Dort, wo die Heroen meiner Kindheit nach nur schwer zu beschreibenden 250 km zitternd, meistens schlammverschmiert und immer mit schmerzverzerrtem Gesicht die letzten Meter auf der Bahn absolviert haben.
So wie ich in diesem Jahr auf eben jene Bahn eingebogen bin, niemanden mehr außer dem Oval der Bahn gesehen habe und nur noch die letzten Meter ganz oben in der Kurve, wo man den besten Blick hat, zu absolvieren. An jener Stelle wurde übrigens das einzige Bild aufgenommen, dass mich mit einem Lächeln im Gesicht zeigt; auf allen übrigen Bildern zeige ich ein schmerzverzerrtes.
Die letzten Augenblicke nach dem Rennen haben wir, oben auf der Bahn in der Kurve sitzend, mit einem –für Außenstehende eher eigentümlichen- Grinsen verbracht. Nichts, aber auch gar Nichts, hätte uns in diesem Moment glücklicher machen können.
Okay.
Das Bier, das unser Kutscher uns gebracht hat, war nah dran.
Danke: Lars. Tobi. Walter
Dass ihr mit mir das vordergründig Unmögliche machbar gemacht habt!

Gallerie zum Bericht:

  • Alle_Drei_zusammen
  • Schnstes_Bild_von_Arenberg_HDR
  • Tobi_und_Armin_hintereinander
  • Torbogen_Qurnaing
  • Zielfoto_alle_Drei

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